Die Evangelische Kirche in Bergisch Gladbach hat den Frühlingsempfang coronabedingt abgesagt. Den Festvortrag zum Thema „Corona als Herausforderung unserer Solidarität” können sich Interessierte dennoch online anschauen – Michael Quante, Professor für Praktische Philosophie an der Wilhelms-Universität Münster, spricht unter anderem über die vielstimmige gesellschaftliche Debatte.
„Die Corona-Pandemie ist seit mehr als einem Jahr unser ständiger Begleiter“, sagt Quante. Häufig sei die gesellschaftliche Debatte von starken Gefühlen geprägt. „Fast immer sind die Diskussionsbeiträge ethisch aufgeladen. Dann wird im dem politischen Streit um Maßnahmen auf die möglichen Toten hingewiesen, die wir verursachen, wenn wir eine Maßnahme beschließen oder die wir verursachen, wenn wir eine Maßnahme nicht beschließen“.
Zivilcourage zeigen
Er ruft dazu auf, dass die Menschen Zivilcourage zeigen und „allen Stimmen klar und deutlich zu widersprechen, die nicht argumentieren, sondern polemisieren und spalten“. Hierbei geht er auf die Verbreitung falscher Behauptungen, Fake-News und kritischen Analysen durch vage Verschwörungstheorien ein.
Selbst mitbestimmen
„Wenn wir menschlich und als vernünftige Wesen miteinander umgehen wollen, müssen wir die einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen“, sagt Quante. „Entsteht eine Verengung auf bestimmte Aspekte oder die Verabsolutierung einzelner Werte“, sei es für die Demokratie schädlich. Daher appelliert er an alle, nicht nur die eigenen Ansprüche zu berücksichtigen, sondern berechtige Ansprüche aller Betroffenen der Corona-Pandemie wahrzunehmen. Er spricht zudem von einer Ungleichverteilung der Risiken und Maßnahmen – ethisch gesehen, gibt es dafür keine einheitliche Lösung, die alle Menschen zufriedenstellt. Daher gilt es, „dass wir selbst mitbestimmen, was geschehen soll“.
Corona-Pandemie als Dauerstress-Test
„Die Corona-Pandemie stellt einen Dauerstress-Test dar“ und „zeigt uns Risse, Spannungen und Ungerechtigkeiten auf allen Ebenen auf“. Umso wichtiger, so Quante, ist daher an das Pflichtbewusstsein der Menschen zu appellieren, auch „die Ansprüche derjenigen zu artikulieren, deren Stimme überhört“ und „deren Nöte übersehen werden“.
„Es geht hier selbstverständlich um unsere Solidarität, aber langfristig geht es darum, berechtigten Ansprüchen aller Menschen in ethisch angemessener Weise gerecht zu werden.“ Er differenziert im ethischen Sinne zwischen „Individuen, deren berechtigten Ansprüche von der Pandemie direkt oder indirekt betroffen sind“ und geht darauf ein, dass diese Ansprüche zu berücksichtigen sind.
Gegen die Ungerechtigkeit
Außerdem macht er seine Position bezüglich eines nationalen Wettbewerbs um die Impfstoffverteilung deutlich: „Wie der knappe Impfstoff gerecht verteilt wird, ist keine nationale Frage, sondern bezieht in der Pandemie die Menschen aller Länder mit ein. Impfstoff-Verteilung oder Impf-Geschwindigkeit sind kein geeigneter Gegenstand von nationalem Wettbewerb. Hier darf sich die Ungerechtigkeit unserer Weltordnung nicht einfach wiederholen.“
Zum Abschluss weist er darauf hin, was Jens Spahn zu Beginn der Pandemie gesagt hat, und zwar, „dass wir uns am Ende vieles zu verzeihen haben werden“ und fasst es mit Bertold Brecht zusammen: „Wir sollten den Nachgeborenen einige Gründe geben, unserer mit Nachsicht zu gedenken.“
Das vollständige Video finden Sie auf YouTube:
Der gesamte Text zum Nachlesen:
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Corona-Pandemie ist seit mehr als einem Jahr unser ständiger Begleiter. Sie betrifft alle auf vielfache, aber auch sehr unterschiedliche Weise. Die gesellschaftliche Debatte ist entsprechend vielstimmig. Häufig ist sie von starken Gefühlen geprägt, fast immer sind die Diskussionsbeiträge ethisch aufgeladen. Ethische Einstellungen decken ein weites Spektrum ab. Sie reichen von emotionalen Reaktionen, zum Beispiel der Empörung über individuelles Fehlverhalten bis zur Bewertung einzelner Handlung oder der Kritik spezieller Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. In den diversen Diskussionen wird auf generelle ethische Prinzipien und Werte zurückgegriffen. Es geht in der Tat um viele hochrangige Güter vom, wie wir sagen nackten Überleben und der Gesundheit ist genauso die Rede, wie von den ökonomischen Existenzängsten oder der individuellen Freiheit.
Im politischen Streit, egal ob im privaten Kreis oder unter hauptberuflichen Politikern, kommen unterschiedliche Gewichtungen dieser Werte, Güter und Normen zum Ausdruck. Die Spannweite reicht vom Vorrang des Lebens Schutzes und der Gesundheit bis zum Vorrang der Sicherung individueller Grundrechte und Freiheiten. Es geht also nie nur um die Frage welche Maßnahmen wirksam sind oder wie schnell umgesetzt werden können. Es geht letzten Endes immer auch darum welche Ziele mit den Maßnahmen erreicht, welche Werte bewahrt und welche Normen respektiert werden sollen. Doch diese ethische Rahmung bleibt zumeist im Hintergrund. Gelegentlich bricht sie sich in ethischen Forderungen unmittelbar Bahn.
Dann wird im dem politischen Streit um Maßnahmen auf die möglichen Toten hingewiesen, die wir verursachen, wenn wir eine Maßnahme beschließen oder die wir verursachen, wenn wir eine Maßnahme nicht beschließen. Die pandemische Lage ist bis auf Weiteres unübersichtlich und widersprüchlich. Unsere gesellschaftliche Debatte fügt sich in dieses Gesamtbild nahtlos ein. In Deutschland haben wir die Möglichkeit uns als Bürgerinnen und Bürger an der gesellschaftlichen Debatte in demokratischen Prozessen frei zu beteiligen, das gilt nicht für alle Menschen auf der Welt gleichermaßen. Dieses ethische Grundrecht ist zugleich auch eine Verpflichtung. In einer Demokratie setzt es die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, eine komplexe ethische Debatte mit rationalen Mitteln zu führen.
Das erfordert ein gewisses Maß an Selbstdisziplin und Toleranz. Es braucht die Bereitschaft sich seriös zu informieren und den Argumenten der anderen, auch der Andersdenkenden, zuzuhören. Zugleich ist die Zivilcourage gefragt, allen Stimmen klar und deutlich zu widersprechen, die nicht argumentieren, sondern polemisieren und spalten. Die sich auf falsche Behauptungen stützen, Fake-News unkritisch weiterverbreiten oder kritische Analysen durch vage Verschwörungstheorien ersetzen.
Wenn wir menschlich, und das meint hier mit wechselseitigem Respekt, und als vernünftige Wesen miteinander umgehen wollen, müssen wir die einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen, wohlwissend dass sie nicht unfehlbar sind und auch nicht immer nur in eine eindeutige Richtung weisen. Außerdem müssen wir umsichtig alle relevanten Güter, Normen und Werte im Blick behalten.
Die Verengung auf bestimmte Aspekte oder die Verabsolutierung einzelner Werte ist für eine Demokratie so schädlich, wie eine einseitige Diät für jeden von uns. Außerdem kommt alles darauf an, dass wir niemanden vergessen, der von der Pandemie oder von unseren Maßnahmen betroffen ist. Dies ist ein Gebot der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Corona ist ein globales Geschehen und wird uns noch lange beschäftigen. Deshalb ist es klug und ethisch geboten unsere ethische Debatte nachhaltig auszurichten. Langfristige und globale Auswirkungen der Pandemie sind gegen kurzfristige und lokale Effekte abzuwägen. Welches Leid für die Wirkung die wir mit unseren Maßnahmen hervorrufen und für die Effekte, die wir durch unsere Unterlassungen nicht verhindern.
Wir sind aufgefordert die berechtigten Ansprüche aller Betroffenen zu berücksichtigen und nicht ausschließlich die Eigenen im Blick zu haben. Es ist menschlich, dass uns dies schwerfällt, je gravierender wir selbst betroffen sind. Es ist offensichtlich, dass es uns allen zunehmend schwerer fällt, je länger die Pandemie andauert. Dauerstress oder Frust sind keine guten Vorbedingungen sich auch die Perspektive der anderen vor Augen zu führen. Doch genau dies sollten wir uns selbst und allen anderen immer wieder abverlangen, sonst werden wir diese Herausforderung ethisch nicht bestehen können und unsere Demokratie wird ernsthaft Schaden nehmen. Angst oder Frustration haben noch nie zu klugen politischen Entscheidungen oder Wahl-Entscheidungen geführt.
Auch die Risiken von Corona und unseren Maßnahmen gleichermaßen müssen gerecht verteilt werden. Dies gelingt nur, wenn wir die einzelnen Kontexte konkret betrachten. Globale Urteile sind vielleicht geeignet im politischen Raum generelle Verurteilungen oder Schuldzuweisungen zu äußern, als ethisch angemessene Antworten taugen sie nicht. Es gibt keine einfachen Lösungen, eine allein richtige ethische Perspektive. Es ist auch nicht der Fall, dass sich nur eine einzige Position ethisch vertreten lässt. In einer demokratischen Gesellschaft leben wir mit einer Vielfalt von Perspektiven und Stimmen. Als Demokraten wollen wir dies auch, obwohl es die Lage und unser Handeln nicht einfacher macht. Zugleich wollen wir diese Freiheit ethisch verantwortlich gestalten. Deshalb brauchen wir einen Prozess der transparenten Abwägung und der partizipativen Aushandlung von Entscheidungen.
Einfach gesagt: Wir müssen selbst mitbestimmen, was geschehen soll. Es kommt auf jede und jeden von uns an. Nicht nur bei der Einhaltung der AHA-Regeln, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Miteinander. Wenn wir respektvoll miteinander umgehen wollen, müssen wir bereit sein unsere eigene ethische Position zu begründen. Wir müssen uns wechselseitig zuhören und mit Argumenten um gute Antworten streiten. Andersdenkende sind, soweit sie argumentieren und nicht polemisieren, nicht als böswillig, egoistisch oder einfach dumm abzuqualifizieren. Wir alle sind Mitstreiter bei der Suche nach ethisch verantwortbaren Maßnahmen, mit denen wir die Pandemie und ihre globalen Folgen ethisch angemessen bewältigen können.
Ohne diese Haltung wird ein demokratisches Zusammenleben auf Dauer nicht möglich. Sie sollten entschieden allen und jedem widerstehen, was oder wer nicht auf den Erhalt einer pluralen, die Freiheit der einzelnen respektierenden und absichern Gesellschaft, zielt. Nach mehr als einem Jahr ist unbestreitbar, die Covid-Pandemie lässt sich nicht auf ein rein medizinisches oder nur die Gesundheit betreffendes Geschehen reduzieren.
Offensichtlich ist sie ein weltweites Geschehen. Diese Pandemie stellt einen Dauerstress-Test dar. Für jeden von uns, für unseren sozialen Nahbereich, für unsere Gesellschaft, für die menschliche Weltgemeinschaft. Corona zeigt uns Risse, Spannungen und Ungerechtigkeiten auf allen Ebenen auf. Corona ist nicht nur selbst eine umspannende Krise, sie verschärft zugleich alle Krisen von denen wir im Grunde schon lange wissen. Flüchtlingsströme, militärische Auseinandersetzungen, ökonomische und ökologische Verwerfungen dramatischen Ausmaßes. Die Pandemie und unsere Gegenmaßnahmen werden durch die langfristigen Folgen die Lebenschancen zukünftiger Generationen betreffen. Corona ist auch zeitlich ein globales Geschehen. Wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen, dürfen wir die Menschen, die in Zukunft auf unserem Planeten leben werden, nicht vergessen.
Nicht nur bei uns in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Erst in der Zukunft existierende Menschen können ihre Stimme überhaupt nicht erheben. Die Möglichkeiten sich Gehör zu verschaffen sind zudem ungleich verteilt. Dies gilt im internationalen Kontext, denken wir an die Lebenschancen der Menschen in den unterentwickelten Ländern. Dies gilt auch in unserer eigenen Gesellschaft. Corona uns vor Augen geführt, dass wir die Pflicht haben, auch die Ansprüche derjenigen zu artikulieren, deren Stimme überhört, deren Nöte übersehen werden. Die Pandemie wütet weltweit, aber der Virus schlägt unterschiedlich hart zu.
Krankheit und Tod korrelieren weltweit, aber auch bei uns mit Bildung und Wohlstand. Es mag eine Versuchung sein, darin nur die mangelnde Verantwortungsbereitschaft der einzelnen Menschen zu sehen, doch dies greift in vielen Fällen zu kurz. Wenn wir gerecht sein wollen, müssen wir die Risiken und Chancen, die wir durch unser Handeln jetzt hervorrufen, angemessen verteilen. Aber wir müssen, dies sollte eine der nachhaltigen Lektionen sein, auch alle Menschen in die Lage versetzen solche Lebenskrisen bestehen zu können. Selbst in unserem reichen Land bleibt da noch viel zu tun.
Umso dramatischer sind die Auswirkungen im internationalen Kontext. Es geht hier selbstverständlich um unsere Solidarität, aber langfristig geht es darum berechtigten Ansprüchen aller Menschen in ethisch angemessener Weise gerecht zu werden. Angesichts knapper Ressourcen und der Unmöglichkeit alle Gefahren von allen Betroffenen abzuwenden, gibt es weder eine perfekte noch eine schnelle Lösung. Momentan geht es aus ethischer Sicht um die ethisch vertretbare Verteilung von Risiken. Wer aber ist und welche Risiken sind als relevant zu berücksichtigen? Im ethischen sinne gehören dazu alle Individuen deren berechtigte Ansprüche von der Pandemie beziehungsweise unseren Maßnahmen direkt oder indirekt betroffen sind. Dabei müssen wir unmittelbare Auswirkungen der Infektion und deren Effekte von langfristigen folgen sowie lokale von globalen Effekten unterscheiden.
Gelegentlich wird von primären und sekundären Opfern der Pandemie gesprochen. Auch die Redewendung, von im Zusammenhang mit Corona Verstorbenen, weist auf die Schwierigkeit hin, klare Grenzen zu ziehen. Gegen die Unterscheidung primär wer so sekundär spricht, dass mit ihr eine nicht begründbare ethische Gewichtung nahegelegt wird. Warum das versterben an dem Virus ethisch gravierender sein soll, als der Tod durch häusliche Gewalt, dessen Wahrscheinlichkeit durch diverse Maßnahmen steigt, ist nicht ersichtlich. Wir sollten besser von direkt und indirekt betroffenen Menschen sprechen. Durch aktuelle Entscheidungen würden wir zukünftigen Generationen Lasten auf. Die Ansprüche dieser indirekt betroffenen Gruppe sind zu berücksichtigen.
Gleiches gilt mit Blick auf die räumliche Dimension. Wenn wir Grenzen schließen oder Reise-Verbote aussprechen, sind wir als Bürgerinnen und Bürger direkt, Menschen die in ihren Ländern vom Tourismus leben indirekt betroffen. Für manche Staaten ergeben sich hieraus gesamtgesellschaftliche Probleme, deren Effekte von ökonomischen Krisen bis zur politischen Stabilisierung reichen können. In Gestalt von Flüchtlingsströmen werden uns die Effekte dieser Effekte in nicht allzu ferner Zukunft wieder erreichen. Und dann wird Europa dann werden wir alle beweisen müssen, ob wir zur globalen Menschlichkeit fähig und zur ungeteilten Solidarität mit allen Menschen bereit sind. Aus Sicht unserer Ethik, der sich die Wertegemeinschaft Europa verpflichtet, darf keine Gruppe von Betroffenen übersehen werden.
Wir stehen gerade bei denen am meisten in der Pflicht, denen unsere Maßnahmen die tiefsten Eingriffe oder die größten Risiken zumuten. Und dabei ist es irrelevant, ob es sich um räumlich oder zeitlich weiter entfernte Gruppen von Betroffenen handelt. Wie der knappe Impfstoff gerecht verteilt wird, ist keine nationale Frage, sondern bezieht in der Pandemie die Menschen aller Länder mit ein. Impfstoff-Verteilung oder Impf- Geschwindigkeit sind kein geeigneter Gegenstand von nationalem Wettbewerb. Hier darf sich die Ungerechtigkeit unserer Weltordnung nicht einfach wiederholen, indem sich das brutale Faustrecht des ökonomisch Stärkeren unwidersprochen durchsetzt. Über die unmittelbare Bewältigung der Pandemie hinaus, werden die ökonomischen Kosten unserer Maßnahmen die nächsten Generationen in ihren Gestaltungsspielräumen einschränken.
Dies gilt für unsere Gesellschaft, das trifft umso mehr auf die ärmeren Länder dieses Planeten zu. Wir sollten die Menschen, deren individuelle Lebenschancen wir durch unser Handeln und unser Unterlassen gravierend beeinflussen, bei unserem Ringen um gute und verantwortbare Maßnahmen nicht übersehen. Jens Spahn hat schon zu Beginn der Pandemie zu Recht gesagt, dass wir uns am Ende vieles zu verzeihen haben werden. Ich möchte darüber hinaus auch den zukünftigen Generationen mit gutem Gewissen gegenübertreten können. Wir sollten, so lässt sich dies mit Bertolt Brecht zusammenfassen, den Nachgeborenen einige Gründe geben, unserer mit Nachsicht zu gedenken. Ich danke Ihnen.
Text: APK
Foto(s): Ev. Kirchengemeinde Bergisch Gladbach / Prof. Dr. Dres. h.c. Michael Quante
Der Beitrag „Corona als Herausforderung unserer Solidarität“ – digitale Frühlingsansprache erschien zuerst auf Evangelischer Kirchenverband Köln und Region.